Kapitel 6 - Andere Datenarten

Margrit Schreier

 

Neben visuellen Daten haben in den letzten Jahren weitere Datenarten an Bedeutung gewonnen. An den ‚visual turn‘ hat sich ein ‚sensory turn’ in den qualitativen Sozialwissenschaften angeschlossen, und in diesem Zusammenhang haben Forscher*innen zunehmend auch auditiven, räumlichen und mobilen Daten Beachtung geschenkt.

 

Auditive Daten

Unter auditiven Daten sind in erster Linie natürliche Töne zu verstehen, die ohne Zutun der Forscher*innen in der Umgebung vorhanden sind. Auch Töne stellen eine eigene Modalität dar, die durch Unmittelbarkeit (man kann sich ihnen schwer entziehen) und Vergänglichkeit (Töne hinterlassen keine Spuren – sofern man sie nicht aufzeichnet) gekennzeichnet ist. Auch Töne haben – wie visuelle Daten – den Anschein von ‚Objektivität‘, sind aber letztlich ebenso perspektivisch und kulturell eingebettet (Bull, 2018).

 

Beispiel

‚Soundscapes‘ in Liverpool

In der jüngeren Forschung unter Nutzung auditiver Daten haben insbesondere sog. ‚Soundscapes‘ an Bedeutung gewonnen, d.h. die ‚Landschaft‘ von Klang- und Tonqualitäten, die mit einer bestimmten Umgebung verbunden sind (Kelman, 2010). So hat beispielsweise Waldock (2016) die Bewohner*innen eines Stadtteils in Liverpool aufgefordert, ihre eigenen ‚Soundscapes‘ ihrer Umgebung zu erstellen – und zwar zu einem Zeitpunkt, als sie auf ihre Umsiedlung durch die Stadtverwaltung im Rahmen eines Neugestaltungsprojekts warteten. Anschließend führte sie mit den Teilnehmer*innen Interviews zu diesen Soundscapes durch. Für eine ältere Frau war z.B. der Klang des Türriegels beim Schließen der Tür von Bedeutung. Der Ton vermittelte ihr die Sicherheit, dass die Tür auch tatsächlich verschlossen war. Die Tür in ihrer neuen Wohnung schloss dagegen lautlos – was sie verunsicherte.

 

Räumliche Daten

Bei der Erhebung räumlicher Daten steht das räumliche Erleben im Mittelpunkt (Manderscheid, 2020). Dabei können entweder die Forscher*innen den Teilnehmer*innen auf ihren Wegen durch Alltagsräume folgen. Alternativ können die Teilnehmer*innen auch die Forscher*innen durch bestimmte Aspekte ihres räumlichen Erlebens führen. Dabei können je unterschiedliche Aspekte der Raumerfahrung im Mittelpunkt stehen. Wenn der Schwerpunkt auf der Bewegung durch den Raum liegt, spricht man auch von mobilen oder ambulatorischen Verfahren. Wenn Töne und Klänge im Raum für die Forschungsfrage zumindest auch relevant sind, bestehen forschungspraktische Überlappungen zur Erhebung auditiver Daten. Dies ist beispielsweise bei der Methode der ‚Soundwalks‘ der Fall, wo die Teilnehmer*innen die Forscher*innen durch ihre Klangwelt führen. Mobile und ambulatorische Methoden werden im Band noch ausführlicher dargestellt (s. Abschn. 6.6.2).

 

Gegenstände

Oben wurden Gegenstände bereits als eine weitere Datenart erwähnt, die manchmal den Dokumenten im weiteren Sinne zugeordnet werden. Manche Forscher*innen argumentieren dagegen, dass Gegenstände des Alltagsgebrauchs eine eigenständige Kategorie darstellen und dass wesentliche Eigenschaften bei der Subsumierung von Gegenständen unter Dokumente nur unzureichend berücksichtigt werden (Schubert, 2020). So sind Gegenstände sowohl in Herstellungs- als auch in Verwendungszusammenhänge eingebettet: Gegenstände sind Mittel zum Zweck und somit in soziale Zusammenhänge eingebunden. Dabei erfordert die Untersuchung von Gegenständen und ihres Gebrauchs sowohl Beobachtungsverfahren als auch Verfahren der Befragung sowie Analysen des Gegenstandes selbst.

 

Weitere Datenarten

Über die hier beschriebenen Datenformen hinaus gibt es – neben den digitalen Daten (s. Abschn. 6.1.4) – noch vielfältige weitere Formen, auf die hier nicht genauer eingegangen werden kann. Dazu zählen beispielsweise Zeitverwendungsdaten, wie sie durch Tagebuchverfahren erhoben werden. Eine neuere Methode zur Erhebung von Zeitverwendungsdaten ist das sog. Experience Sampling (s. Abschn. 2.3.4): Hier werden die Teilnehmer*innen per App auf ihrem Smartphone aufgefordert, kurz zu beschreiben, wo sie sich gerade aufhalten, wie es ihnen geht und was sie gerade machen. Weiterhin sind hier qualitative Netzwerkdaten zu erwähnen, mit denen sich Beziehungen zwischen Personen erheben lassen (Hollstein, 2020). Dafür eignen sich beispielsweise sog. Netzwerkkarten. Darauf können bestimmte Arten von Beziehungen vorgegeben sein, und die Teilnehmer*innen tragen ein, welche Personen welchen Kategorien entsprechen und wie sie untereinander verbunden sind. Auch gänzlich freie Zeichnungen sind möglich. Sowohl Zeitverwendungsdaten als auch Netzwerkdaten finden sowohl in der qualitativen wie auch in der quantitativen Forschung Verwendung und eignen sich daher besonders für die Verwendung in Mixed Methods-Studien (s. Kap. 9).

 

Literatur

Bull, M. (2018). Sounds as data. In U. Flick (Ed.), The Sage handbook of qualitative data collection (pp. 426-438). Sage.

Hollstein, B. (2020). Qualitative Netzwerkdaten. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (2. Aufl., Bd. 2, S. 1301-1312). Springer VS.

Kelman, A. (2010). Rethinking the soundscape: A critical genealogy of a key term in sound studies. The Senses and Society, 5(2), 212-234.

Manderscheid, K. (2020). Mobile methods. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (2. Aufl., Bd. 2, S. 1361-1370). Springer VS.

Schubert, C. (2020). Gebrauchsgegenstände und technische Artefakte. In N. Baur & J. Blasius (Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung (2. Aufl., Bd. 2, S. 1215-1222). Springer VS.

Waldock, J. (2016). Crossing the boundaries: Sonic composition and the anthropological gaze. The Senses and Society, 11(1), 60-67.

 

 

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