Kapitel 5 - Autoethnografie

Margrit Schreier

 

Bei dem Ansatz der Autoethnografie handelt es sich um eine Variante ethnografischen Arbeitens, die seit den späteren 1980er Jahren zunächst in den USA und inzwischen auch in der europäischen Forschung zunehmend Verwendung gefunden hat. Eingeführt wurde der Begriff von Carolyn Ellis, die gemeinsam mit Arthur Bochner als zentrale Vertreter*innen des Ansatzes gelten können (Adams et al., 2020). In der Bezeichnung ‚Autoethnografie‘ sind drei definitorische Elemente enthalten: ‚Auto‘ bezieht sich darauf, dass autoethnografische Forscher*innen auf ihr eigenes Erleben als zentrale Datenquelle zurückgreifen. ‚Grafie‘ weist darauf hin, dass dieses eigene Erleben einem schreibenden Analyseprozess unterzogen wird. Und ‚ethno‘ bezieht sich schließlich darauf, dass autoethnografische Forschung nicht als bloße Autobiografie beim Erzählen eigenen Erlebens stehen bleibt, sondern dieses in soziale und kulturelle Gegebenheiten einordnet. Trotz der konstitutiven Rolle des eigenen Erlebens werden jedoch ergänzend auch andere Daten herangezogen, wie Interviews oder Dokumente.

 

Beispiel

Erst mein Vater, dann mein iPhone

In seiner Autoethnografie setzt Daniel Wade Clarke (2020) sich mit dem Tod seines Vaters und dem anschließenden Verlust seines iPhone auseinander, auf dem er ein Video seines Vaters im Krankenhausbett gespeichert hatte, in dem dieser in einem selten gewordenen Augenblick von Frische und Vitalität fröhlich vor sich hin singt und summt. Nach einem Jahr taucht das iPhone wieder auf – aber Wade hat das Passwort vergessen, und nach jeder falschen Eingabe wird das Telefon für immer längere Zeit gesperrt, bevor es sich nach der zehnten falschen Eingabe gänzlich abschaltet. In Wades Studie steht somit das Phänomen des ‚digitalen Todes‘ im Mittelpunkt: der unwiederbringliche Verlust digitalisierten Materials und die damit verbundene Trauer.

Wie in der Autoethnografie üblich, stellt Wades eigenes Erleben in Folge des Verlusts – und des anschließenden Wiederauftauchens und erneuten Verlusts des auf dem Telefon gespeicherten Videos – die wichtigste Datenquelle dar. Darüber hinaus bezieht er auch Zitate anderer Autor*innen über deren Erleben eines ‚digitalen Todes‘ ein und nutzt diese zur Verarbeitung seines Erlebens. Weiterhin kontextualisiert er das Phänomen des ‚digitalen Todes‘ innerhalb der wissenschaftlichen Literatur in Auseinandersetzung mit dem ‚physischen Tod‘, dem ‚sozialen Tod‘ und deren Relation zum ‚digitalen Tod‘ sowie zu Datenverlust in Folge fehlender Backups. Parallel reflektiert er kontinuierlich den autoethnografischen Ansatz selbst und dessen methodologische Anforderungen. Dazu zählen beispielsweise das Gütekriterium, durch den autoethnografischen Text den Erlebens- und Reflexionsspielraum der Rezipient*innen zu erweitern, oder die Anforderung, dass Autor*innen Expert*innen hinsichtlich der gewählten Darstellungsform sein sollten (etwa: dem Verfassen narrativer Texte).

Zur Darstellung bedient sich Wade einer Form ‚autoethnografischer Collage‘, innerhalb derer er unterschiedliche Formen miteinander kombiniert. So ist der Text in ‚Skizzen‘ unterteilt, die an die Akte eines Theaterstücks erinnern. Die Skizzen sind in Versform verfasst, die mit den narrativen Passagen verschränkt sind. Zugleich macht Wade deutlich, dass die Verse eigentlich als Liedverse gedacht und gesungen vorzustellen sind (und zwar, in Abweichung von der methodologischen Anforderung einer Darstellungskompetenz, als „lousy singing“, also ‚schlechtes Singen‘). Weiterhin sind Textteile, in denen Wade sein eigenes Erleben darstellt, mit methodologischen Reflexionen verschränkt. Der Text endet mit der Reflexion – teilweise in Versform -, dass über die schreibende Auseinandersetzung mit dem Verlust des Videos eine neue Form der Aneignung stattgefunden hat, die in ein neues Produkt mündet – eben diesen Text.

 

Merkmale autoethnografischer Forschung

Wades Studie verdeutlicht eine Reihe weiterer Merkmale autoethnografischen Arbeitens. Ganz wesentlich ist hier vor allem die Rolle des Schreibprozesses. Im Prozess des Schreibens machen sich autoethnografische Forscher*innen verletzlich, indem sie teilweise sehr persönliche Gedanken und Empfindungen offenlegen. Da sich im Schreibprozess die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erleben und dessen Reflexion in einem weitergehenden sozialen und kulturellen Kontext vollzieht, kommt dem Schreiben innerhalb des autoethnografischen Arbeitens die Rolle des Auswertungs- und Analyseprozesses zu: Die Auswertung findet beim und im Schreiben statt. Weiterhin nutzen autoethnografische Forscher*innen Textsorten, die nicht den üblichen Konventionen akademischen Schreibens entsprechen, sondern die auch für ein breiteres, nicht-akademisches Publikum zugänglich sind: narrative Texte, aber eben auch Versformen, Theaterstücke, Romane. Damit einher geht der Anspruch, Forschung mit dem Ziel der Ermächtigung (‚Empowerment‘) und gesellschaftlicher Veränderung zu betreiben. Zugleich wenden sich autoethnografische Forscher*innen ganz bewusst von den klassischen Gütekriterien der Objektivität und der Verallgemeinerbarkeit ab. Vielmehr geht es ihnen darum, je subjektives, standortgebundenes Wissen zu erzeugen. Dessen Gültigkeit bemisst sich daran, inwieweit ein autoethnografischer Text in der Lage ist, etwas bei den Rezipient*innen auszulösen. Der autoethnografische Forschungsprozess ist somit nicht mit dem Abschluss der Studie oder der Publikation entsprechender Texte beendet, sondern erstreckt sich darüber hinaus und umfasst auch Prozesse der Rezeption und Wirkung.

 

Formen der Autoethnografie

Innerhalb des Ansatzes der Autoethnografie haben sich verschiedene Unterformen herausgebildet. In der Literatur werden beispielsweise unterschieden: (1) eine reflexive Form, in der die eigene Disziplin im Zuge autoethnografischen Arbeitens reflektiert wird; (2) eine evokative Form, bei der das Erzeugen von Gefühlen bei den Leser*innen im Vordergrund steht; und (3) eine analytische Form, die stärker akademisch orientiert und auf Theoriebildung und -erweiterung ausgerichtet ist. Darüber hinaus finden sich auch kollaborative Autoethnografien, in denen Forscher*innen gemeinsam ein Phänomen erleben und reflektieren, wobei die Relation der Perspektiven zueinander eine wichtige Ergänzung der Einzel-Autoethnografie darstellt. Thematisch eignet sich der autoethnografische Ansatz sowohl für die Untersuchung des Erlebens von Alltags- als auch Ausnahmesituationen (s. Wades Beispiel der Trauer angesichts des ‚digitalen Todes‘).

 

Autoethnografie und Forschungsethik

Es ist nicht überraschend, dass die Autoethnografie, sich die im Schnittbereich von Ethnografie und Autobiografie bewegt, vielfacher Kritik ausgesetzt ist, insbesondere im Hinblick auf wissenschaftliche Gütekriterien (s. Kap. 8). An dieser Stelle soll lediglich kurz auf die ethischen Probleme eingegangen werden, die für die Autoethnografie spezifisch sind. Wenn autoethnografische Forscher*innen ihr eigenes Erleben in den Mittelpunkt stellen, betrifft dies in der Mehrzahl der Fälle auch ihre Beziehungen zu anderen Menschen. Zugleich ist eine Anonymisierung hier nur schwer möglich – wenn beispielsweise eine Autoethnografin über die Beziehung zu ihrer Mutter schreibt. Daraus ergeben sich zugleich forschungsethische Anforderungen: Wie in anderer Forschung auch, ist es zwingend notwendig, dass Autoethnograf*innen vor einer Publikation die Zustimmung anderer Personen einholen, die im Text dargestellt und identifizierbar sind.

 

Literatur

Adams, T. E., Ellis, C., Bochner, A., Ploder, A. & Stadlbauer, J. (2020). Autoethnografie. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (2. Aufl., Bd. 2, S. 471-491). Springer VS.

Clarke, D. W. (2020). First my dad, then my iPhone: An autoethnographic sketch of digital death. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 21(2). https://doi.org/10.17169/fqs-21.2.3258.

 

 

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