Kapitel 8 - Beispiel einer ethisch problematischen qualitativen Studie

Nicole Weydmann & Margrit Schreier

 

Das Einholen von informierten Entscheidungen stellt Forschende insbesondere mit Blick auf teilnehmende Beobachtungen vor Herausforderungen. Eine Studie, die aufgrund ihrer ethischen Probleme viel Aufmerksamkeit erlangt hat, ist die Feldforschung von Humphreys (1970):

 

„Tearoom Trade“

Humphreys‘ deskriptive Feldforschung wurde in den 1960er Jahren im Homosexuellenmilieu einer US-amerikanischen Großstadt durchgeführt. Er interessierte sich darin für die – bis zu diesem Zeitpunkt wissenschaftlich praktisch unerforschte – Subkultur des homosexuellen anonymen Sex in öffentlichen Toiletten, die umgangssprachlich auch „tearoom trade“ genannt wurde. Zum damaligen Zeitpunkt war Homosexualität in den USA noch strafbar.

In der ersten Forschungsphase (Herstellung des Feldkontakts) konzentrierte Humphreys sich darauf, geeignete Settings für eine Beobachtung ausfindig zu machen. Denn wie er schnell herausfand, wurden nicht alle öffentlichen Toiletten zu diesem Zweck frequentiert, sondern bevorzugt solche Toilettenhäuschen, die in der Nähe einer Autobahn lagen (und sich so für einen Zwischenstopp am späten Nachmittag von der Arbeit nach Hause nutzen ließen), von Spielplätzen und Grillplätzen weit genug entfernt lagen und von außen nicht leicht einsehbar waren. Im nächsten Schritt musste Humphreys einen Feldzugang finden, der es ihm erlaubte, seine Beobachtungen durchzuführen, ohne sich selbst an den sexuellen Aktivitäten zu beteiligen. So wurde er für die Dauer seiner Erhebung zur „Watchqueen“ – einer Mischung aus Voyeur und „Aufpasser“, der die anderen vor Fremden oder gar der Polizei warnte, falls solche Personen sich dem Toilettenhäuschen näherten. Dabei führte er seine Untersuchung großteils verdeckt durch; die beobachteten Personen wussten also nichts von seiner Stellung als Sozialwissenschaftler und von seinem Untersuchungsinteresse. Im Verlauf der Materialsammlung beobachtete er 120 sexuelle Akte; in seinem Buch beschreibt er im Detail die Sprachlosigkeit der sexuellen Interaktionen, wie die interessierten Männer sich auch ohne Worte schnell einig werden, welche Rollen ihnen zur Verfügung stehen und wie sich Wechsel zwischen den Rollen vollziehen. Diese Beobachtungen ergänzte er durch Interviews mit wenigen ausgewählten „Schlüsselinformanten“, mit denen er im Gelände außerhalb der Toiletten ins Gespräch gekommen war. Diesen Personen gegenüber legte er auch seine Identität als Forscher offen.

In der zweiten Phase der Forschung notierte er zudem die Autokennzeichen der beobachteten Männer, verschaffte sich durch falsche Angaben Zugang zum polizeilichen Register der Kennzeichen und machte so die Namen der Männer ausfindig – die er schließlich, ebenfalls unter Vorspiegelung falscher Tatsachen, zu ihrem Familienstand, ihren Wertvorstellungen, religiösen und politischen Überzeugungen interviewte.

Humphreys‘ Forschungsziel bestand darin aufzuzeigen, dass homosexuelle Männer ganz normale Menschen sind, die sich von anderen US-amerikanischen Männern nur durch ihre sexuelle Präferenz unterscheiden. Die ethischen Debatten werfen jedoch eindeutig die Frage auf, inwieweit der Zweck die Mittel rechtfertigen kann.

 

Literatur

Humphreys, L. (1970). Tearoom Trade: Impersonal Sex in Public Places. Aldine Publishing Company.

 

 

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