Kapitel 5 - Digitale Ethnografie

Margrit Schreier

 

Angesichts der zunehmenden Bedeutung des Internet und der sozialen Medien in den letzten zwei Jahrzehnten ist als wesentliche Entwicklung ethnografischer Traditionen weiterhin die Digitale Ethnografie zu nennen (alternativ auch: Virtuelle Ethnografie). ‚Digital‘ kann sich dabei entweder auf den Datentyp (z.B. Facebook-Profile) und die Erhebungsmethode (z.B. das Verfolgen von Hyperlinks) beziehen oder auf den Untersuchungsgegenstand (z.B. eine Online-Selbsthilfegruppe) oder auf beides. In der Frühphase der Digitalen Ethnografie standen Online-Gemeinschaften im Mittelpunkt des Interesses, wobei ‚online‘ und ‚offline‘ als getrennte Bereiche gesehen wurden; das Digitale galt dabei als eigenständiges ‚Feld‘ mit Neuigkeitswert. Mit der zunehmenden Integration digitaler Medien in unseren Alltag gilt die strikte Trennung von ‚online‘ und ‚offline‘ inzwischen als obsolet. Vielmehr geht es in der Digitalen Ethnografie gerade darum, die Art und Weise zu explorieren, wie Online-Medien in unseren Alltag integriert sind. Wichtige Vertreter*innen einer Digitalen Ethnografie sind u.a. Sarah Pink, Christina Hine sowie Robert Kozinets (‚Netnography‘). Die folgende Darstellung orientiert sich an Christina Hine, die bereits in der Frühphase des Internet eine Virtuelle Ethnografie konzipiert und diese im Folgenden zu einer Digitalen Ethnografie weiterentwickelt hat (2015).

 

Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ‚traditioneller‘ und digitaler Ethnografie

Im Rahmen einer Digitalen Ethnografie stellt sich die Frage, wie sich eine Ethnografie unter Berücksichtigung digitaler Medien und Welten zu einer ‚traditionellen‘ Ethnografie verhält. Zunächst einmal sind einige Gemeinsamkeiten hervorzuheben: Auch in der Digitalen Ethnografie ist ein längerer Aufenthalt im Feld vorgesehen; und auch hier stellt die teilnehmende Beobachtung die zentrale Methode dar, ergänzt um weitere Methoden, wie beispielsweise das Interview. Eine reine Analyse digital vorliegender Daten (beispielsweise von Beiträgen in Newsgruppen) ohne Interaktion zwischen Forscher*innen und Personen im Feld würde demnach den methodischen Anforderungen an eine Digitale Ethnografie nicht genügen.

Zugleich sind aber auch wichtige Unterschiede zu benennen. So ist in der Digitalen Ethnografie oftmals schwer zu bestimmen, wo genau das Feld endet. In ihrer Ethnografie von Cibervalle, einem öffentlichen Diskussionsforum für Paraguyaner*innen in der Migration, hat Heike Greschke (2007) beispielsweise untersucht, wie Kontakte aus dem Diskussionsforum sowohl in Paraguay als auch im globalen Kontext um Offline-Kontakte und Treffen ergänzt werden und wie Ereignisse aus Offline-Kontexten in den Online-Kontext integriert und dort zur Grundlage für weiteren Austausch werden. Sind Partys von Paraguyaner*innen in der Migration, von denen Bilder online gestellt werden, also Teil des Feldes? Anhand solcher Entscheidungen wird die konstituierende Rolle der Forschenden bei der Definition des Feldes vermehrt sichtbar. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass es in der Digitalen Ethnografie häufig darum geht, einem Phänomen über unterschiedliche Sites hinweg zu folgen (z.B. das Online-Diskussionsforum, Treffen in Paraguay, Treffen in der Migration in unterschiedlichen Ländern); es handelt sich bei der Digitalen Ethnografie somit um eine Form der multi-sited ethnography. Dass den Forscher*innen eine konstituierende Rolle bei der Abgrenzung des Feldes zukommt und dass ein Feld sich über mehrere Sites hinweg erstreckt, kann auch in regulären Ethnografien der Fall sein, tritt aber in der Digitalen Ethnografie noch einmal deutlicher hervor.

Weiterhin wird in der Digitalen Ethnografie die Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt, was die Teilnahme an einem Feld genau beinhaltet. In der ‚traditionellen‘ Ethnografie ist dann von einer Teilnahme am Feld die Rede, wenn Forscher*innen für sich im Feld eine mehr oder weniger aktive Rolle gefunden haben. In digitalen Umgebungen ‚betreten‘ die Forscher*innen ein Feld typischerweise zunächst in einer Position des ‚Lurking‘: Sie lesen beispielsweise die Beiträge in einem Diskussionsforum, beteiligen sich jedoch selbst nicht an der Diskussion. In der Tat ist es für Online-Umgebungen durchaus typisch, dass eine Vielzahl von Teilnehmer*innen über längere Zeit in der Rolle des ‚Lurking‘ verbleiben; die Rolle ist daher im Feld durchaus repräsentiert und akzeptiert. Dennoch findet aus dieser Position heraus keine Interaktion zwischen den Forscher*innen und den Personen im Feld statt – die bloße Präsenz in einer Online-Umgebung stellt daher noch kein Kriterium für eine Teilnahme im eigentlichen Sinne dar. Dafür ist eine aktivere Rolle erforderlich (also beispielsweise das Posten von Diskussionsbeiträgen).

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Digitaler und ‚traditioneller‘ Ethnografie besteht in den Daten, die online zur Verfügung stehen und herkömmliche ethnografische Methoden ergänzen. Purdam und Elliott (2015) nennen die folgenden Arten von Online-Daten:

  • Partizipative intentionale Daten (participative intentional data): Daten, die Nutzer*innen als Reaktion auf eine entsprechende Aufforderung im Online-Kontext zur Verfügung stellen;
  • Folgedaten (consequential data): Daten, die in Folge einer Online-Handlung oder –Transaktion entstehen, etwa in Folge von Online-Bankgeschäften, der Teilnahme an Online-Spielen etc.;
  • Daten aus Eigenpublikation (self-published data): Daten, die Nutzer*innen online publizieren, beispielsweise Lebensläufe, aber auch Blogposts usw.;
  • Daten in sozialen Medien (social media data): Tweets, Facebook-Profile, Fotos auf Instagram usw.;
  • Datenspuren (data traces): Spuren, die Nutzer*innen im Internet in Folge ihrer Aktivitäten hinterlassen, oft ohne sich dessen bewusst zu sein (z.B. Cookies, Logfiles);
  • Vorgefundene Daten (found data): Daten, die öffentlich zugänglich sind, z.B. Webseiten. Zu dieser Datenform existieren auch offline-Äquivalente, beispielsweise Daten aus Archiven.

 

Methodische Anforderungen in der Digitalen Ethnografie

Forscher*innen können somit in Digitalen Ethnografien auf ein reichhaltigeres Datenmaterial zurückgreifen als bisher üblich. Damit ergeben sich zugleich neue methodische Anforderungen. Dies betrifft zunächst die Erhebung und die Aufbereitung der Daten. So ist beispielsweise nur ein Teil der Daten auf Plattformen für soziale Medien automatisch herunterladbar, und die ‚heruntergezogenen‘ Daten enthalten meist Doppelungen. Weiterhin ergeben sich neue Anforderungen an die Auswertung, etwa bei der Nutzung von Tools zur Visualisierung von Datennetzwerken. Und schließlich ist ein Mehr an Daten nicht automatisch gleichbedeutend mit ‚besseren‘ Daten. Anstatt der Versuchung von ‚Big Data‘ zu unterliegen, kann es oft sinnvoller sein - wie in der qualitativen Forschung üblich -, eine kleinere Menge an Daten differenziert zu betrachten und einen solchen vertieften Einblick ggf. im Rahmen des umfassenderen Datenmaterials zu kontextualisieren.

Schließlich ergeben sich in Digitalen Ethnografien aus der Verwendung neuer Datenformate und Arbeitsweisen auch neue ethische Anforderungen. An vorderster Stelle steht hier der Grundsatz, dass die öffentliche Zugänglichkeit von Daten nicht gleichbedeutend mit öffentlicher Verfügbarkeit ist. Wenn Forscher*innen auf Daten zugreifen können (etwa in öffentlichen Diskussionsforen), dann bedeutet dies nicht automatisch, dass ein Verwenden und Zitieren dieser Daten ohne weiteres ethisch gerechtfertigt ist; vielmehr ist vor einer Verwendung individueller Daten stets vorab die Zustimmung der Verfasser*innen einzuholen. Ein weiteres Problem ergibt sich durch die Suchfunktionalität des Internet. Dies betrifft zunächst Zitate aus Online-Quellen. Auch wenn diese in einer Publikation anonymisiert sind, sind sie leicht auffindbar und einem Individuum zuordenbar. Es empfiehlt sich daher ggf., den Wortlaut des Zitats so abzuändern, dass der Sinn erhalten bleibt, das Zitat jedoch nicht mehr eindeutig auffindbar ist. Die Suchfunktionalität des Internet ermöglicht außerdem den Untersuchungsteilnehmer*innen leichten Zugriff auf Publikationen der Studie oder ggf. auch informellen Austausch der Forscher*innen über die Studie in Online-Formaten. Forscher*innen sollten daher bei all ihren Äußerungen zur Studie im Online-Kontext eine mögliche Rezeption und deren Folgen für die Relation zwischen Forscher*innen und Teilnehmer*innen bedenken.

Mit der zunehmenden Verflechtung von online- und offline-Aspekten unseres Lebens und Integration digitaler Medien in unseren Alltag ist davon auszugehen, dass die Digitale Ethnografie künftig weitgehend in die ‚traditionelle‘ Ethnografie integriert wird. Vermutlich werden aus neuen technischen Entwicklungen weitere neue Datenformate und damit verbundene Methoden resultieren, denen neben Feldnotizen und Interviewdaten ein fester Platz innerhalb des Daten- und Methodenspektrums der Ethnografie zukommt.

 

Literatur

Greschke, H. M. (2007). Logging into the Field—Methodological Reflections on Ethnographic Research in a Pluri-Local and Computer-Mediated Field. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(3). https://doi.org/10.17169/fqs-8.3.279.

Hine, C. (2015). Ethnography for the internet. Embedded, embodied, and everyday. Routledge.

Purdam, K. & Elliott, M. (2015). The changing social science data landscape. In P. Halfpenny & R. Procter (Eds.), Innovations in digital research methods (pp. 25-58). Sage.

 

 

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