Kapitel 5 - Ethnografie der Sinne (Sensory Ethnography)

Margrit Schreier

 

Wie bei der lebensweltlichen Ethnografie, kommen auch bei der Ethnografie der Sinne (‚sensory ethnography‘) dem unmittelbaren Erleben der Forscher*innen sowie der Leibgebundenheit dieses Erlebens eine zentrale Bedeutung zu. Allerdings liegt der Schwerpunkt der Ethnografie der Sinne, wie der Name schon sagt, auf der Rolle der Sinneserfahrungen und den Kategorien der Sinneserfahrung für das nachvollziehende Verstehen der Erfahrungen des Erlebens anderer. Vorgänger der Ethnografie der Sinne sind u.a. die visuelle Anthropologie und Ethnografie, die auf eine lange Tradition der Nutzung visuellen Materials bereits in der Frühzeit der Feldforschung zurückgreifen können. Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf dem Sichtbarmachen und Verstehen von implizitem Wissen in Alltagskontexten. Wichtigste Vertreterin einer Ethnografie der Sinne ist Sarah Pink (z.B. 2015).

 

Beispiel

Bedeutungen und Funktionen von Wäsche im Alltag

Als Teil eines umfangreichen Forschungsprojekts zur Energieverwendung und Energiesparen in britischen Haushalten führten Pink, Mackley und Morosanu (2015) eine ethnografische Studie in der Tradition der Ethnografie der Sinne zur Rolle des Wäschewaschens und Wäschetrocknens durch. Ziel der Untersuchung war es, implizites Wissen zum Thema ‚Wäsche‘ zugänglich zu machen und die Zusammenhänge zwischen Wäsche, dem Zuhause, häuslichen Routinen, Bewegungsabläufen im Zuhause und dem häuslichen Energieverhalten zu explorieren.

Die Untersuchung wurde in 11 Haushalten durchgeführt. In einem ersten Schritt wurden die Teilnehmerinnen gebeten (ausschließlich Frauen stellten sich als Expertinnen in Sachen Wäsche zur Verfügung), die Forscherinnen auf einer Videotour durch ihr Zuhause zu führen. Im begleitenden Interview fragten die Forscherinnen beispielsweise, wann die Waschmaschine angeschaltet, wann und wo die Wäsche getrocknet wurde und wie diese Tätigkeiten mit anderen Tätigkeiten in Zusammenhang standen. Andere Fragen bezogen sich auf die Wäschestücke selbst: Woher weiß man, dass etwas schmutzig ist und in die Wäsche muss? Sind hier allein Flecken ausschlaggebend? Und woher weiß man, dass etwas sauber ist? Wie sieht saubere Wäsche aus, wie riecht sie, wie fühlt sie sich an? In einem zweiten Schritt hielten sich die Forscherinnen für einen variablen Zeitraum (mehrere Stunden an einem Tag oder an mehreren Tagen) bei den Teilnehmerinnen zuhause auf, während diese ihren häuslichen Tätigkeiten nachgingen, einschließlich Wäschewaschen und –trocknen.

Die Studie zeigt sehr anschaulich, wie das Waschen und das Trocknen der Wäsche in den Rhythmus des Alltagslebens eingebettet ist und diesen mitbestimmt. Dazu zählt beispielsweise die Verwendung der Zeitschaltuhr der Waschmaschine, so dass diese nachts anspringt, während die Energiepreise in England am niedrigsten sind – was zugleich das Herausnehmen der Wäsche als Teil der morgendlichen Aktivitäten ermöglicht. Die Teilnehmerinnen trockneten ihre Wäsche meist im Haus, und auch dies ist eng mit dem Rhythmus des Alltagslebens verwoben: Welche Kleidungsstücke trocknen schnell, welche langsam? Welche sind im Trockenraum am besten aufgehoben, welche direkt vor oder sogar auf den Heizungen, welche, wenn die Sonne gerade in den Raum scheint? Welche Räume können von wem genutzt werden, wenn gerade Wäsche trocknet? Auch spielen Sinnesqualitäten im Zusammenhang mit Wäsche eine zentrale Rolle: Wäsche sieht nicht nur sauber oder schmutzig aus, sondern sie fühlt sich auch entsprechend an (man denke an frischgewaschene Bettlaken) – und auch der Geruchssinn ist hier von Bedeutung (man denke an schmutzige Socken – oder an Wäsche, die in der Sonne an der frischen Luft getrocknet wurde). Wäschetrockner lehnten die Teilnehmerinnen im Übrigen meist deswegen ab, weil Wäsche sich im Trockner häufig statisch auflädt, also aufgrund der Haptik.

 

Merkmale einer Ethnografie der Sinne

Jedoch geht die Ethnografie der Sinne in mehreren Hinsichten über die traditionelle – und auch die visuelle - Ethnografie hinaus. So kommt der Situiertheit von Erfahrung eine wesentliche Bedeutung zu: Erleben findet an Orten statt, die bestimmte (leibliche) Erfahrungen ermöglichen, andere einschränken, und in denen auch die Forscher*innen und ihre Interaktionen mit den Personen im Feld situiert sind. In der Studie von Pink et al. (2015) zur Wäsche ist dies das Zuhause der Teilnehmerinnen; und je nachdem, ob die Teilnehmerinnen zuhause über einen Trockner, einen Balkon oder Garten oder auch einen Trockenraum verfügen, ergeben sich je andere Möglichkeiten des Wäschetrocknens und auch je andere Konsequenzen für ihre Energienutzung.

Dies gilt ebenfalls für die Reflexivität der Forscher*innen, die eine zentrale Grundlage dieser Forschungstradition darstellt. Auch liegt der Schwerpunkt einer Ethnografie der Sinne in der Regel nicht auf einzelnen Sinnen (wie bei der visuellen Ethnografie), sondern auf der Art und Weise, wie die verschiedenen Sinne untereinander verbunden sind und multisensorische Erfahrungen erzeugen (vgl. z.B. die visuellen, olfaktorischen und haptischen Qualitäten von schmutziger und sauberer Wäsche).

Daraus ergeben sich wiederum methodisch-methodologische Anforderungen, die zur Weiterentwicklung des Methodenrepertoires beigetragen haben. Schließlich resultieren aus der Fokussierung der Sinne und des sinnlich vermittelten Erlebens auch veränderte Anforderungen an die Dokumentation der Forschungsergebnisse: Um Sinneserfahrungen im Feld unmittelbar nachvollziehbar zu machen, sind herkömmliche schriftliche Dokumentationsformen um andere Dokumentationsformen zu erweitern (etwa Film, Audioaufnahmen, Kunstformen); hier ergeben sich Verbindungen von der Ethnografie der Sinne zur Performativen Sozialforschung (s. Abschn. 5.6).

 

Methoden einer Ethnografie der Sinne

Zielführend für die Methodologie einer Ethnografie der Sinne ist die Annahme, dass es nicht darum geht, im – außerhalb der Forscher*innen situierten – Feld ‚Daten zu erheben‘, sondern dass Forscher*innen vielmehr gemeinsam mit den Personen im Feld Daten erzeugen. Ethnografisches Forschen wird somit zu einer Form der Produktion von Wissen im Rahmen gemeinsamer Praxis.

Dabei kommen zwar weiterhin teilnehmende Beobachtung und das Interview zur Anwendung; beide Methoden werden jedoch anders konzeptualisiert als in der traditionellen ethnografischen Forschung.Die teilnehmende Beobachtung wird zur multisensorischen Teilnahme, beispielsweise in Form einer ‚sensory apprenticeship‘ (etwa beim Erlernen einer sportlichen Disziplin) oder indem die Forscher*innen Tätigkeiten gemeinsam mit den Personen im Feld ausführen (z.B. gemeinsames Gehen, gemeinsames Essen, oder – in der Wäschestudie – gemeinsames Erledigen der Wäsche). Dabei halten sich die Forscher*innen in der Regel nicht – wie bei der traditionellen Feldforschung - über längere Zeit im Feld auf; Phasen der teilnehmenden Beobachtung sind vielmehr eher kurz und zugleich intensiv. In ihrer Studie zur Wäsche hielten sich Pink et al. beispielsweise nur für mehrere Stunden an wenigen Tagen im Feld auf. Auch beim Interview kommt der Situiertheit der Interaktion und den körpergebundenen Praktiken, die das Interview begleiten, eine vermehrte Bedeutung zu (etwa dem gemeinsamen Trinken einer Tasse Tee oder Kaffee). Sowohl die teilnehmende Beobachtung als auch das Interview werden durch die Verwendung visueller Methoden ergänzt, beispielsweise der Erstellung von Videoaufnahmen beim gemeinsamen Gehen oder durch Fotos oder Videos, die die Personen im Feld zu Forschungszwecken erstellt haben, wie beispielsweise die Videotour durch das eigene Zuhause in der Wäschestudie. In jüngerer Zeit kommen außerdem vermehrt digitale Daten und Methoden zur Anwendung (s. Abschn. 6.1.4).

Mit der Fokussierung eigenen kulturellen Alltagswissens, dem Zugang zu diesem Alltagswissen durch sinnliches Erleben, der Betonung der Rolle der Reflexivität der Forscher*innen im Forschungsprozess und der Suche nach neuen, nicht nur textuellen Formen der Dokumentation veranschaulicht die Ethnografie der Sinne die wesentlichen Entwicklungen ethnografischen Forschens aus den vergangenen Jahrzehnten.

 

Literatur

Pink, S. (2015). Doing sensory ethnography (2nd ed.). Sage.

Pink, S., Mackley, K. & Morosanu, R. (2015). Hanging out at home: Laundry as a thread and texture of everyday life. International Journal of Cultural Studies, 18(2), 209-224.

 

 

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