Kapitel 5 - Hermeneutik

Margrit Schreier

 

Bei der Hermeneutik handelt es sich um die älteste Methode zur Auslegung von bedeutungshaltigem Material. Entstanden ist sie im theologischen und juristischen Kontext als Lehre von der Auslegung verbindlicher Texte: Im Rahmen dieser sog. dogmatischen Hermeneutik wurden Texte (wie beispielsweise die Bibel) auf ‚Handlungsanweisungen‘ für verschiedene Situationen hin ‚befragt‘; es fand also eine Textinterpretation statt. Im 18. und 19. Jahrhundert begründete Schleiermacher eine allgemeine geisteswissenschaftliche Hermeneutik, die im Folgenden von Dilthey für die Sozialwissenschaften weiterentwickelt wurde. In der zeitgenössischen Philosophie fand außerdem eine Ausarbeitung der Hermeneutik zu einer generellen Theorie des Umgangs mit historisch-gesellschaftlichen Gegenständen statt (z. B. Gadamer, 1986[1960]). Im Folgenden ist jedoch nicht diese letztere Auffassung von Hermeneutik als Philosophie von Interesse, sondern es steht die geisteswissenschaftlich-sozialwissenschaftliche Auffassung von Hermeneutik als Methode des Verstehens im Mittelpunkt.

Ziel der Hermeneutik ist es, zu einem angemessenen und umfassenden Verständnis des Gesagten zu gelangen und dabei die Subjektivität des Verstehens im Alltag zu überwinden. Dies setzt einen Hintergrund geteilter Bedeutung voraus. Grundprinzip des hermeneutischen Verstehens ist der hermeneutische Zirkel, wobei genau genommen zwei solcher Zirkel anzusetzen sind (Sichler, 2020):

  • Hermeneutischer Zirkel I: Verstehen vollzieht sich zum einen in einem Ineinandergreifen von Vorverständnis und Textverständnis: Ein Verstehen eines Textes ist nur vor dem Hintergrund eines bereits gegebenen Vorverständnisses möglich. Das resultierende Textverständnis modifiziert seinerseits das Vorverständnis, das erneut an den Text herangetragen wird und seinerseits ein vertieftes Textverständnis ermöglicht – usw.
  • Hermeneutischer Zirkel II: Verstehen vollzieht sich aber auch in einem Ineinandergreifen von Textteil und Textganzem: Ein Verstehen der Textteile ist Voraussetzung für das Verstehen des Textganzen. Aus dem Verstehen des Textganzen resultiert ein neues, vertieftes Verstehen der Textteile, das wiederum in ein erneutes Verstehen des Textganzen eingeht – usw.

 

Der Begriff des Zirkels bezeichnet hier also keinen Teufelskreis, sondern ein fortschreitendes, vertieftes Verstehen. Um dieses vertiefte Verstehen abzubilden, das dem Text in zunehmendem Maße gerecht wird, ist manchmal auch von einer hermeneutischen Spirale die Rede.

Literatur

Gadamer, H.-G. (1986 [1960]). Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (5., durchges. u. erw. Aufl.). Mohr.

Sichler, R. (2020). In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (2. Aufl., Bd. 1, S. 125-144). Springer VS.

 

 

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