Kapitel 5 - Qualitatives Experiment

Margrit Schreier

 

Definition

„Das qualitative Experiment ist der nach wissenschaftlichen Regeln vorgenommene Eingriff in einen (sozialen) Gegenstand zur Erforschung seiner Struktur. Es ist die explorative, heuristische Form des Experiments“ (Kleining, 1986, S. 724).

 

Das qualitative Experiment wurde in den frühen 1980er Jahren von Kleining entwickelt. Es wird das Prinzip der systematischen Variation ausgewählter Variablen, wie es für das Experiment in der quantitativen Forschung charakteristisch ist, für die qualitative Forschung nutzbar gemacht. Im Gegensatz zum quantitativen Experiment werden dabei nur solche Variationen realisiert, die der Struktur des Gegenstands gerecht werden. Auch wird der Gegenstand in seiner natürlichen Umgebung belassen und in seiner ganzen Komplexität untersucht, sodass das Prinzip der Kontrolle von Störvariablen hier keine Anwendung findet. Außerdem handelt es sich beim qualitativen Experiment nicht um ein deduktiv-hypothesentestendes, sondern um ein induktiv-entdeckendes Verfahren: Die Strukturen des Gegenstandes sollen sichtbar gemacht werden.

 

Der Ablauf des qualitativen Experiments gliedert sich wie folgt: Zu Beginn wird der Untersuchungsgegenstand detailliert beschrieben. Daran schließt sich ein erster „experimenteller“ Eingriff an, auf den eine erneute detaillierte Beschreibung folgt, die (im Vergleich zur vorausgehenden Beschreibung) eventuelle Unterschiede in der Struktur des Gegenstands sichtbar macht, die auf den Eingriff zurückzuführen sind. Es wird beschrieben, wie sich der Gegenstand infolge des Eingriffs verändert hat. Daran schließen sich weitere systematische Eingriffe an, jeweils gefolgt von einer erneuten Beschreibung. Am Schluss dieses Prozesses stehen Schlussfolgerungen auf die Struktur des Gegenstandes.

 

Beispiel

Ein qualitatives Experiment zum Lernen und Denken von Schimpansen

Die Prinzipien des qualitativen Experiments wurden auch schon in der Anfangsphase der Psychologie angewandt, bevor die Methode als solche ausgearbeitet und eingeführt war. In einer Studie zum Lernen und Denken von Schimpansen untersuchte Köhler (1917) in der Tradition der Gestaltforschung den Umgang der Tiere mit Hindernissen bei der Nahrungsbeschaffung nach den Prinzipien des qualitativen Experiments. Relevante Aspekte der Situation, die er einer systematischen Variation unterzog, waren beispielsweise das Ziel, die zu überwindenden Schwierigkeiten (welche Hindernisse waren zu überwinden, wie hoch hing der Korb mit den Bananen, blieb das Futter für die Tiere die ganze Zeit sichtbar oder nicht usw.), oder auch die Tiere (sowohl Spezies: Hühner, Schimpansen; als auch individuelle Tiere, die Intelligenzunterschiede aufwiesen). Köhlers zentrale Schlussfolgerung lautete, dass das Verhalten der Tiere im Umgang mit den Hindernissen durch Einsicht bestimmt war, nicht durch Versuch und Irrtum.

Die Eingriffe im Verlauf des qualitativen Experiments erfolgen nach dem Prinzip der maximalen strukturellen Variation, das zugleich als „Grundregel“ des qualitativen Experiments gelten kann. Es besagt, dass alle relevanten Aspekte des Untersuchungsgegenstands auf Ähnlichkeiten und Unterschiede hin analysiert werden sollen – wobei die Identifikation relevanter Aspekte selbst bereits Hypothesencharakter hat. Köhler ging bei seiner Untersuchung der Schimpansen beispielsweise von der Annahme aus, dass die Schwierigkeit des Problems einen solchen relevanten Aspekt in der Situation der Nahrungsbeschaffung darstellte. Er prüfte diese Hypothese u. a., indem er den Korb mit den Bananen einmal so hoch hängte, dass die Tiere gerade noch hineinreichen konnten, ein andermal höher, sodass die Tiere zunächst das Problem lösen mussten, überhaupt an den Korb zu kommen. Dann verglich er das Verhalten der Tiere in der einen und der anderen Situation.

Kleining schlägt drei Arten von Eingriffen vor, die für je unterschiedliche Arten von Gegenstandsbereichen geeignet sind.

  1. Methoden zur Gliederung des Gegenstandsbereichs, beispielsweise Unterteilungen (Segmentation) und (Neu-)Kombination von Bestandteilen (Was passiert, wenn man das Ganze in Teile aufspaltet oder Teile neu zusammensetzt?); diese Methoden eignen sich beispielsweise zur Untersuchung von Gruppenstrukturen oder der Struktur von Texten.
  2. Methoden zur Veränderung der Ausdehnung des Gegenstandsbereichs, wie etwa Abschwächung oder Intensivierung (Was passiert, wenn eine Eigenschaft intensiviert wird?); solche Methoden finden beispielsweise bei der Untersuchung von Wahrnehmungsqualitäten Anwendung.
  3. Methoden zur Umwandlung des Gegenstandsbereichs wie Substitution oder Transformation (Was passiert, wenn man beispielsweise ein Musikstück unter Beibehaltung sämtlicher übriger Merkmale in eine andere Tonart überführt?).

Das qualitative Experiment ist eine heuristische (entdeckende) Methode mit hohem Potenzial gerade in der psychologischen Forschung.

 

Literatur

Kleining, G. (1986). Das qualitative Experiment. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38, 724‒750.

Köhler, W. (1917). Intelligenzprüfungen an Menschenaffen. Springer.

 

 

 

 

 

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