Kapitel 5 - Untersuchungsbeispiel „Streetcorner Boys“: Ein Klassiker der Ethnografieforschung

Margrit Schreier

 

Whytes Studie von „Cornerville“ in den 1940er Jahren gilt heute sowohl inhaltlich als auch methodologisch als als Klassiker der soziologischen Ethnografieforschung: Unter inhaltlicher Perspektive konnte Whyte als erster aufzeigen, dass die „Streetcorner Gangs“, die den Menschen aus wohlhabenderen Stadtvierteln als der Inbegriff von Chaos und Willkür erschienen, in der Tat eine klare soziale Organisationsstruktur aufwiesen. Methodologisch lässt sich gerade die Offenheit des qualitativen Vorgehens an Whytes Studie besonders gut aufzeigen.

Denn Whyte wählte den inhaltlichen Schwerpunkt seiner Studie jedoch erst nach etwa anderthalb Jahren, als ein Zwischenbericht für sein Promotionsstipendium fällig war und er feststellte, dass er über wichtige Aspekte des Gemeindelebens noch keine hinreichenden Daten hatte. Etwa zeitgleich kam ihm eine Erleuchtung beim Bowling mit den „Corner Boys“ an einem Samstagabend. Er hatte sich dem Bowling angeschlossen, um so einen besseren Zugang zu einigen der Gruppenmitglieder zu erhalten. Und plötzlich fiel ihm auf, dass es einen Zusammenhang gab zwischen der Gruppenhierarchie und dem individuellen Abschneiden der Gruppenmitglieder beim Spiel. Und er kam zu der Schlussfolgerung: Ich sollte das Bowling um des Bowling selbst willen beobachten – nicht als Mittel zu einem anderen Zweck, denn das Bowling stellt quasi einen Mikrokosmos der sozialen Organisation der Gruppe dar.

Auch andere Aspekte der Studie ergaben sich erst im Untersuchungsverlauf. So kontrastiert Whyte beispielsweise die „Streetcorner Gangs“, die im sozialen Gefüge von Cornerville eher untergeordnet sind, mit den „Racketeers“ (Gaunern, Schutzgelderpressern), die in der Hierarchie weiter oben stehen. Die Rolle der „Racketeers“ und die Notwendigkeit, auch sie zu beobachten, wurde ihm jedoch erst bei einem zufälligen Blick aus seinem Fenster bewusst. Dass zunächst die Mitglieder der Corner Boys im Mittelpunkt seines Interesses standen, resultierte als Folge seines Feldzugangs über „Doc“, den ‚Anführer‘ der „Corner Boys“. Auch hatte Whyte ursprünglich geplant, zusätzlich zur teilnehmenden Beobachtung Interviews durchzuführen – sah davon jedoch ab, als er feststellen musste, dass informelle Gespräche und Beobachtungen deutlich ergiebiger waren.

 

Literatur

Whyte, W. (1943). Street corner society. The social structure of an Italian slum. University of Chicago Press.

 

 

 

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