Kapitel 7 - Weitere Prinzipien der objektiven Hermeneutik

Margrit Schreier

 

Bei der Durchführung einer objektiv-hermeneutischen Analyse sind folgende weitere Prinzipien zu beachten:

  • Sequenzielle Vorgehensweise: Ausgehend von der Äußerung, die den Beginn der Analyse markiert, werden sukzessive weitere Äußerungen einbezogen, und zwar in genau der Sequenz, in der sie innerhalb der Interaktion aufeinander folgen. Es wird also beispielsweise nicht um mehrere Äußerungen nach vorne gesprungen. Spätere Äußerungen dürfen die Interpretation früherer Äußerungen nicht beeinflussen.
  • Prinzip der Totalität: Es wird jeweils die gesamte Äußerung in die Analyse einbezogen, einschließlich eventueller Versprecher, Abbrüche im Satz, Füllwörter usw.
  • Prinzip der Wörtlichkeit: Die Analyse orientiert sich am genauen Wortlaut der Äußerung. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen subjektivem und latentem Sinngehalt von Bedeutung – denn der latente Sinngehalt manifestiert sich oft gerade in der (‚subjektiv‘ möglicherweise nicht so gemeinten) wörtlichen Äußerung. Anschaulich wird dies beispielsweise bei Versprechern (wenn die Chairperson ein Meeting etwa mit den Worten beginnt: „Hiermit schließe ich das Meeting.“; vgl. Garz & Raven, 2020).
  • Ausblenden des Kontextes: In der objektiven Hermeneutik wird zwischen internem und externem Kontext von Äußerungen unterschieden. Unter den externen Kontext fallen die äußeren Entstehungsbedingungen einer Interaktion (wer hier miteinander interagiert, in welcher Situation, welchem Texttyp eine Interaktion zuzuordnen ist). Zum internen Kontext gehören sämtliche Äußerungen im Verlauf der Interaktion. Bei der Generierung von möglichen Lesarten wird zu Beginn der Kontext gänzlich ausgeblendet, um eine möglichst freie Erzeugung möglichst vieler Lesarten zu ermöglichen. Der interne Kontext erschließt sich zwangsläufig im Verlauf der Analyse, wenn sukzessive weitere Äußerungen einbezogen werden. Der externe Kontext wird erst im späteren Verlauf der Analyse berücksichtigt.
  • Prinzipien der Extensivität und der Sparsamkeit: Das Prinzip der Extensivität besagt, dass eine möglichst große Spannbreite von Lesarten generiert werden soll. Eingeschränkt wird es jedoch durch das Prinzip der Sparsamkeit. Dieses erfordert, dass die Lesarten ohne weitere Zusatzannahmen mit dem zu interpretierenden Text vereinbar sind.

 

Literatur

Garz, D. & Raven, U. (2020). Objektive Hermeneutik. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch qualitative Forschung in der Psychologie (2. Aufl., Bd. 2, Designs und Verfahren, S. 579-602). Springer.

 

 

Zurück zur Übersicht