Kapitel 5 - Weiterentwicklungen und Kontroversen in der GTM

Margrit Schreier

 

Wie genau das Kodieren und insbesondere die zweite Phase des Kodierens zu sehen ist und vor sich gehen soll, hat zu heftigen Kontroversen unter den Vertreter*innen der Gegenstandsbezogenen Theoriebildung geführt. Glaser spricht hier von Codefamilien, zu denen die offenen Codes induktiv gruppiert werden (1998). Strauss und Corbin (1998) schlagen dagegen vor, einen interaktionistischen Codierrahmen mit feststehenden Kategorien auf das Datenmaterial anzuwenden. Dazu zählt u. a. die Analyse der Daten im Hinblick auf Bedingungen, Kontext, Handlungsstrategien. Strauss und Corbin rücken damit von dem Gedanken ab, die Theorie ganz aus den Daten hervorgehen zu lassen, und geben den Forschenden ein strukturelles Grundgerüst an die Hand. Ein solches Gerüst kann einerseits Orientierung in der Fülle des Datenmaterials bieten, läuft aber andererseits auch Gefahr, die Daten in eine vorgegebene Struktur zu zwängen. In jedem Fall bleibt aber das Grundprinzip dasselbe: Es soll zunächst möglichst datennah kodiert werden; dann sollen diese datennahen Codes sowohl innerhalb als auch zwischen den Fällen abstrahierend zusammengefasst werden, und schließlich soll auf dieser Grundlage eine Theorie über den Untersuchungsgegenstand entwickelt werden.

In den vergangenen Jahrzehnten sind weitere Varianten der GTM in zweiter und dritter Generation entwickelt worden. Zur zweiten Generation zählen u.a. die konstruktivistische Variante der GTM nach Charmaz (2014), die reflexive GTM nach Breuer (Breuer, Muckel & Dieris, 2018) sowie die Situationsanalyse nach Clarke (Clarke, Friese & Washburn, 2018). Allen diesen Formen der GTM in zweiter Generation ist gemeinsam, dass hier die Rolle der Forscher*innen im Forschungsprozess stärker in den Blick kommt, womit zugleich eine reflexive Grundhaltung an Bedeutung gewinnt. Ansätze zu einer dritten Generation von GTM finden sich in Form von Kombinationen der GTM mit anderen qualitativen Ansätzen (im Überblick Mey & Mruck, 2020).

 

Literatur

Breuer, F., Muckel, P. & Dieris, B. (2018). Reflexive Grounded Theory (4. Aufl.). Springer VS.

Charmaz, K. (2014). Constructing grounded theory (2nd ed.). Sage.

Clarke, E. A., Friese, C. & Washburn, R. (2018). Situational analysis: Grounded theory after the interpretive turn (2nd ed.). Sage.

Mey, G. & Mruck. K. (2020). Grounded-Theory-Methodologie. In G. Mey & K. Mruck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (2. Aufl., Bd. 2, S. 513-535). Springer VS.

Strauss, A. L. & Corbin, J. (1998). The basics of qualitative research: Techniques and procedures for developing grounded theory (2nd ed.). Sage.

 

 

 

Zurück zur Übersicht